Agilität trifft organisationale Realität: Steuerung von Innovation im Alltag

Abstract

Agile Prinzipien sind in aller Munde. Doch die gelebte Realität vor Ort sieht oft anders aus. Da treffen dann Anforderungen von New Work auf Gewohnheitswirklichkeiten von Organisation. Das hat des Öfteren zur Folge, dass agile Methoden Einzug erhalten und in die bestehenden Abläufe und Strukturen integriert werden, ohne die Haltung, die hinter den Prinzipien steht, reflektiert und adaptiert zu haben. Die Enttäuschung folgt: die Organisation absorbiert die Methode, alles bleibt wie es ist. Was also braucht es von Führung, damit agile Prinzipien in bestehenden Organisationen einen echten Mehrwert für die Organisation bieten? Ich biete in diesem Artikel ein Reflexionstool für Führungskräfte an, um zu eruieren, durch welchen (vermehrten) Einsatz agiler Prinzipien sie einen Unterschied, der einen Unterschied macht, bilden können, ohne die gesamte Organisation in zu große Irritation zu stürzen.

Fragestellung

Reflexionshilfe für Führungskräfte: Welche Aspekte meines Führungshandeln führen für Situation X wohl am leichtesten zu gewünschten Veränderungen?

Zielsetzung

Durch die Systematisierung und Gegenüberstellung von Gewohnheitswirklichkeiten und agilen Wirkprinzipien erhalten Führungskräfte eine konkrete Reflexionsfolie, welche Aspekte bedenkenswert sind – und mit welchem Führungshandeln wohl am ehesten gewünschte Veränderungen zu erzielen sind.

Beschreibung

Was tut eine Organisation, um am Leben zu bleiben? Sie organisiert sich. Die grundlegende systemische Funktion einer Organisation, ist, sich zu erhalten. Sobald Menschen mit gemeinsamer Absicht zusammenfinden, beginnen sie, ihr Handeln in Strukturen zu überführen. Dies geschieht unter anderem, indem Ziele gesetzt, Pläne gemacht und überprüft, Strukturen dafür geschaffen und die nötigen Stellen dafür beschrieben werden. Damit es möglichst wenig Doppelbearbeitungen gibt, werden Funktionen voneinander abgegrenzt und Regeln definiert, die in der Folge dafür sorgen, dass mithilfe festgelegter Standards Einzelleistungen sicht- und honorierbar werden. Dies geschieht durch Reporting und Controlling. Und wenn Uneinigkeit herrscht wird diskutiert, abgestimmt und entschieden bis zum Konsens.

So organisieren wir Gewohnheitswirklichkeiten. Das ist sehr erfolgreich für alle Tätigkeiten, die planbar sind und mit genauen (Fach-)Kompetenzen und Arbeitsaufwänden hinterlegt werden können. Also für einen großen Teil der Arbeit in Organisationen. Und das ist gut so, denn wir alle wollen nicht jeden Tag unsere Abläufe und Zuständigkeiten neu verhandeln. Gewohnheitswirklichkeiten geben Sicherheit. Sie stärken die Verbindlichkeit untereinander und das Vertrauen in die Organisation. Sie bilden die Basis für gute Zusammenarbeit.

Überlassen wir eine Gruppe mit gemeinsamem Ziel sich selbst, so bemüht sie sich um genau dies. Und was ist nun Aufgabe von Führung? Und damit meine ich nicht nur Führung von denen, die das Wort im Jobtitel tragen. Ich spreche über Führungsarbeit. Diese wird geleistet von disziplinarischen und lateralen Führungskräften, von Projektarbeitenden und allen, die Themen führen, die Verantwortung übernehmen.

Führungsarbeit hat in der Gewohnheitswirklichkeit den Auftrag, diese zu managen. Wir sprechen von operativer Führungsarbeit: Verhandlung und Bereitstellung von Ressourcen, Moderation von Schnittstellen, Wertschätzung von Leistung etc. etc.

Und dann gibt es noch diese andere Welt. Diese Welt, in der Führung den Auftrag hat, die Organisation in Bewegung zu halten und die darin Arbeitenden in Verwirrung zu stürzen. Führung soll ausreichend irritieren, so dass die Menschen in ihr wach bleiben, so dass sie ihre Routinen ausreichend überprüfen, um zu bemerken, wenn sich die Welt weiterdreht und nach neuen Lösungen verlangt. Die Führungsarbeit der Irritation brauchen wir in der Organisation stets dann, wenn noch nicht klar, wie die Zukünfte sich vor uns entfalten werden. Wenn Herausforderungen komplex sind, wenn es mehr Fragen als befriedigende Antworten gibt und die Aufgabe nur gestaltbar, nie gänzlich lösbar, ist.

Diese Welt ist die Welt, in der agile Prinzipien eine wertvolle Unterstützung für die Führungsarbeit liefern können. Führungsarbeit hat in VUKA Zusammenhängen den Auftrag, Sinn zu stiften und dazu zu ermutigen, Experimente zu starten. Agile Führungsarbeit bedeutet, den Prozess der Erkenntnisfindung zu gestalten und dabei zu definieren, welche Rollen auf dem Weg nützlich sein könnten. Es geht um die Vernetzung von Kompetenzen und darum, in Schleifen beständig Erwartungen aneinander und an die nächsten Schritte zu klären. Das fordert und fördert Selbstorganisation und Verantwortungsübernahme. Komplexe Fragen können nicht mehr von Einzelnen gelöst werden und so treten gemeinsame Erfolge in den Vordergrund. Wenn zu Beginn nicht klar ist, wo es hingehen wird, dann ist es für die Zusammenarbeit besonders nützlich zu reflektieren, was hat uns bisher arbeitsfähig und kreativ gehalten, womit standen wir einander im Wege, was brauchen wir voneinander. Und: Agiles Arbeiten heißt auch Loslassen. Es wird leichter, wenn Vertrauen in den Weg entsteht und Commitment herrsch darüber, dass dieser Teil der Arbeit aus Versuch und neu gewonnener Information entsteht. Und für Versuche brauche ich weniger Konsens, mehr Vertrauen.

Führungsarbeit setzt sich aus beiden Welten zusammen. Doch die Arbeit in den Gewohnheitswirklichkeiten und die Irritation durch agile Prinzipien bilden oft ein Spannungsfeld. Daraus haben wir die folgende Reflexionsmethode abgeleitet: Reflexion von Führungshandeln; sowohl als Selbstreflexion als auch als gemeinsame Reflexion im Team bezüglich der gemeinsamen Führungsarbeit (von Menschen & Themen).

Konkretes Beispiel

Inhouse Führungskreis, Thema Führungskultur

Variante 1 (2-3h)

Input (siehe Beschreibung. 10-15 Minuten)

Diskussion und Verständnisfragen (10 Minuten)

Arbeit in gemeinsamen Führungszusammenhängen: gemeinsame Bepunktung offline einer Stellwand oder online auf einem collaboration Tool (hier miro). Offline bitte ich die Teilnehmenden zu Beginn der Kaffeepause bitte alle bis zum Ende der Pause hinter der Stellwand gewesen zu sein, um anonym ihre Kreuze zu machen. Online gebe ich den Link entweder auch vor einer Pause heraus (bei kleinen Gruppen) oder ich nutze eine Breakoutsession: die Teilnehmenden gehen dann zu zweit oder dritt im Gespräch durch die Matrix. Ob sie dann individuell kreuzen oder sich einigen, bleibt ihnen überlassen. Der Vorteil: alle haben sich schon ins Thema hineindiskutiert für das anschließende Plenum.

Es wird anonym je Aspekt zweimal bepunktet (zwei Farben): Wo stehen wir aktuell in unserer Führungskultur? Und wo sollten wir meiner Meinung nach hin, um den aktuellen Herausforderungen noch besser begegnen zu können?

Anschließend Diskussion des Gesamtbildes.

Offline Plenum 30-45 Minuten. Online Plenum max. 20 Minuten, falls detaillierter Gesprächsbedarf: Breakoutsessions 15 Minuten, Erkenntnisse Plenum 10 Minuten.

Paarweise Schlussfolgerungen (2×10 Minuten)

1) Was davon scheint mir für meine Führungspraxis besonders relevant?

und Vorschläge fürs Plenum erarbeiten. Online können diese an einem gemeinsamen Board erarbeitet werden,. (10-20 Minuten),

2) Was finde ich, sollten wir alle gemeinsam mehr, weniger, anders tun?

Mit folgenden Leitfrageangeboten:

  • Welche Veränderung(en) erscheinen uns am Wirkungsvollsten und ausreichend attraktiv, um sie anzugehen?
  • Was genau machen wir dann also ab jetzt anders? Wer, wo, wann, wie, was genau?
  • Woran merken es die anderen, wer?
  • Wie veröffentlichen wir das wem gegenüber?
  • Wann reflektieren wir, wie es uns gelingt?

Im abschließenden Plenum Moderation der Vorschläge inklusive Einwandbehandlung, Verabredungen, Reflexionstermine (20-60 Minuten).

(In diesem Beispiel ergab sich viel Redebedarf zum Thema Standards-Selbstorganisation, daraus entstanden zwei Versuchsballons zu mehr Selbstorganisation. Und es entspann sich eine intensive Debatte über die Frage, woran es liegt, dass der Führungskreis einerseits findet, dass sie die Kompetenzen der Kolleg*innen gut im Blick haben und ihnen andererseits feste Funktionsbeschreibungen so wichtig erschienen. Es wurde deutlich, dass einige Fragen leichter zu klären wären, wenn dort Rollenformulierungen die bisherigen Funktionsbeschreibungen ablösen, und sich darauf frei beworben werden könnte unabhängig von Abteilung, Hierarchie etc, das setzte lustvolle Umsetzungsenergie frei und sorgte im Nachgang für einschneidende Veränderungen.)

Variante 2

Input (siehe Beschreibung. 10-15 Minuten)

Diskussion und Verständnisfragen (10 Minuten)

Individuelle Arbeit in Führungskräfteworkshop oder Coaching:

Die Coachee wählt einen konkreten Führungskontext, in dem sie gerade nicht so weiterkommen, wie sie es gerne hätte und sortiert das eigene Führungshandeln in allen Aspekten, wie sie es aktuell wahrnimmt. Denksprechen erlaubt, so bleiben die Begleitenden im Bilde.

Dann tritt die Coachee einen Schritt zurück und betrachtet das Gesamtwerk. Fällt schon was auf? Zeichnet sich vielleicht schon eine Erkenntnis ab?

Und zum Abschluss begibt sich die Coachee ein zweites Mal durch die Aspekte, diesmal mit dem Fokus:

  • Wenn ich meine Art zu führen in diesem Aspekt variieren würde (mehr Richtung Gewohnheitswirklichkeit oder mehr Richtung agile Prinzipien), welche Auswirkungen hätte das?
  • Was wäre wohl zieldienlich?
  • Womit würde ich die wertvollste Irritation hervorrufen?
  • Was erscheint mir also attraktiv, um es zu versuchen?
  • Wann und mit wem reflektiere ich, wie es läuft?

Not to forget

Das Reflexionstool ermöglicht sowohl die individuelle Diagnostik als auch die Diagnostik des Stands der Organisation im Wandel zum agile(re)n Unternehmen und darin liegt sowohl der Charme als auch die Gefahr, denn es ist ja meist einfacher, über die Organisation zu reden als bei sich zu bleiben! Deswegen empfehle ich sehr, den Auftrag und die Fragen den Absichten der Zielgruppe anzupassen und sich im Vorfeld das Mandat der Gruppe zu holen, sie zurückholen zu dürfen, wenn sie in die Falle des „Über die anderen redet sich´s leichter“ tappen!

Und: Die aktuell bestmögliche Art der Führung liegt stets irgendwo zwischen den Polen von Gewohnheitswirklichkeit und Agilität. Die beiden Pole bieten keinen Gegensatz, ihre Angebote komplettieren einander. Vielen Führungskräften hilft die Darstellung als Spannungsfeld, um das Verständnis zu vertiefen, dass es nicht um „Entweder-Oder“, sondern um „Beides“ geht: eine Ausgewogenheit von Gewohnheitswirklichkeiten und Agilen Prinzipien im Hier & Jetzt für diesen Kontext.

Vanessa Krüger